Jan Philip Reemtsma, der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, sagte einmal auf einer Tagung: „Zeitzeugen sind der natürliche Feind des Historikers“.

So wird Reemtsma zumindest im „Zeitzeugenbrief“ vom Januar 2014 zitiert (http://www.zeitzeugenboerse.de/_pdf/zzb_14/zzb_brief_1401.pdf). Und in Kontext: Wochenzeitung vom 8. Juli 2017 berichtet Oliver Stenzel unter der Überschrift „Die letzte Zeugen“ von einem Filmprojekt, das Stuttgarter SchülerInnen durchgeführt haben. Gestern hat mich der Film „Radio Rock Revolution“ auf Arte berührt und begeistert.

Was hat das alles miteinander zu tun? Es geht immer um Geschichte, es geht um Zeitzeugenschaft, im letzten Beispiel um meine eigene, denn der 1966 / 67 spielende Musikfilm hat meine Erinnerungen geweckt, an die Jahre meiner Pubertät, an die übermächtige Rolle der Musik, die Ausdruck und Beförderer einer Kulturrevolution war, die sich nicht auf „1968“ reduzieren lässt (und die natürlich auch in Heilbronn stattgefunden hat, obgleich das in der gerade zu Ende gegangenen 1960er-Jahre-Reihe des Stadtarchivs keine Rolle gespielt hat).

Zeitzeugen sind nicht per se der Feind des Historikers; sie werden zum Feind, wenn sie den Anspruch haben, dass sie allein die Geschichte kennen. Wenn sie dem Irrtum verfallen, ihre Erinnerung – die nichts weiter als ihre Deutung ist – sei die alleinige historische Wahrheit. Und wenn der Historiker aus anderen Quellen definitiv weiß, dass es anders war.

Dagegen können Zeitzeugen in der historischen Bildungsarbeit fruchtbar wirken – davon berichtet der zitierte Artikel von Oliver Stenzel. Sie stehen mit ihrer Zeitzeugenschaft für authentische Eindrücke. Aber als historische Quelle müssen ihre Aussagen der Quellenkritik unterworfen werden, wie jede andere Quelle auch, und es ist die Frage, ob das bei einer Befragung durch Schüler oder auf einem öffentlichen Podium hinlänglich gemacht werden kann. Außerdem spielt die zeitliche Nähe (oder Ferne) der Aussage zum historischen Vorgang eine immense Rolle.  Jeder kennt die Schwächen des menschlichen Gedächtnisses; vor Gericht gibt es regelmäßig widersprüchliche Erinnerungen von Zeugen, genauso beim Erzählen des letzten Urlaubs – und wie soll das bei mehr als sieben Jahrzehnten funktionieren!.

Dazu kommt die Möglichkeit des Zeitzeugen, einen Bericht absichtlich oder unabsichtlich zu verfälschen. Er oder sie wird vor allem dazu neigen, die eigenen Handlungen oder die von nahestehenden Menschen zu schönen. Dazu gibt es unter den Zeitzeugenaussagen zur NS-Zeit so unglaubliche Beispiele wie den Satz der Ehefrau des Heilbronner NS-Kreisleiters Richard Drauz, „also was Unrechtes oder irgendwie Krummes, hat er nicht getan und auch nicht gedacht.“ (Zeitzeugengespräch mit Cläre Drauz; 1985. Stadtarchiv Heilbronn E007-21)

Wir müssen immer sorgfältig arbeiten; auch wenn uns ein Zeitzeugenbericht gefällt, müssen wir hinterfragen, vergleichen, abwägen, und unser eigenes Geschichtsbild kritisch hinterfragen…